Schuldgefühle und Selbstzweifel

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Es gibt Tage, an denen du dich fragst, ob du wirklich eine gute Mutter oder ein guter Vater bist. Tage, an denen du abends im Bett liegst und jede deiner Reaktionen durchgehst. Das genervte Aufseufzen, der laute Ton, der Moment, in dem du einfach keine Kraft mehr hattest. Schuldgefühle und Selbstzweifel schleichen sich leise ein, wenn du spürst, dass dein Kind dich mehr fordert, als du manchmal geben kannst.

Gerade Eltern von hochbegabten oder zweifach außergewöhnlichen Kindern kennen dieses Gefühl. Du willst alles richtig machen, aber oft scheint nichts zu reichen. Du liebst dein Kind über alles und trotzdem fühlst du dich manchmal schuldig, überfordert oder einfach leer. Und dann kommt dieser Gedanke: „Andere schaffen das doch auch. Warum fällt es mir so schwer?“

In diesem Artikel erfährst du:

✅ Warum Schuldgefühle und Selbstzweifel bei Eltern von hochbegabten Kindern so häufig sind

✅ Welche typischen Gedanken Eltern in die Spirale der Selbstkritik führen

✅ Wie du aus dieser Spirale wieder herausfindest und Mitgefühl mit dir selbst entwickelst

✅ Warum dein Kind vor allem eines braucht: einen Menschen, der sich selbst auch Fehler erlaubt

Selbstbild: Bin ich gut genug für mein Kind?

Kaum eine Frage trifft Eltern so tief wie diese:

Bin ich gut genug für mein Kind? Sie taucht oft auf, wenn die Geduld fehlt, wenn Tränen fließen oder wenn du das Gefühl hast, alles versucht zu haben und es trotzdem nicht reicht. Schuldgefühle und Selbstzweifel sind dann ständige Begleiter, weil du dein Kind liebst und alles für sein Wohl tun möchtest.

Eltern von hochbegabten oder 2e-Kindern erleben diese Unsicherheit besonders häufig. Ihr Alltag ist geprägt von intensiven Gefühlen, endlosen Diskussionen und einem Kind, das vieles hinterfragt, was andere einfach hinnehmen. Du bist permanent gefordert, musst erklären, begleiten und gleichzeitig stark bleiben. Kein Wunder, dass du dich manchmal überfordert fühlst.

Viele Schuldgefühle entstehen aus dem Wunsch, alles richtig zu machen. Du willst die beste Unterstützung bieten, gleichzeitig gelassen bleiben und deinem Kind ein stabiles Zuhause geben. Wenn das nicht gelingt, fühlt es sich an wie ein persönliches Versagen. Doch in Wahrheit zeigen diese Gedanken etwas anderes: Du nimmst deine Verantwortung ernst. Du willst verstehen, was dein Kind braucht, und suchst nach Wegen, um ihm gerecht zu werden.

Das Gefühl der Überforderung, das viele Eltern kennen, hat laut psychologischen Erkenntnissen oft wenig mit tatsächlichem Versagen zu tun. Es entsteht vielmehr aus der hohen Sensibilität und Intensität, die hochbegabte Kinder in eine Familie bringen. Ihr Tempo, ihre Fragen und ihre Emotionen können überwältigend sein. Nicht, weil du zu schwach bist, sondern weil euer Alltag außergewöhnlich viel Energie fordert.

Der erste Schritt aus dieser Spirale ist, diese Gefühle nicht länger als Zeichen von Schwäche zu sehen. Schuldgefühle und Selbstzweifel dürfen da sein. Sie zeigen, dass dir dein Kind wichtig ist. Doch sie müssen dich nicht beherrschen.

Elternrolle: Zwischen Förderung und Versagensangst

Kaum etwas verunsichert Eltern so sehr wie die Frage, ob sie genug tun. 

Fördere ich mein Kind richtig? Hätte ich früher etwas erkennen müssen? Gebe ich ihm genug Halt, genug Struktur, genug Freiheit? 

Diese Gedanken können sich wie ein ständiges Hintergrundrauschen anfühlen, das jede Entscheidung begleitet.

Gerade bei hochbegabten oder zweifach außergewöhnlichen Kindern ist die Unsicherheit groß. Viele Eltern erfahren erst spät, dass ihr Kind anders denkt, fühlt und lernt. Wenn dann Rückmeldungen aus der Schule kommen, dass das Kind nicht mitarbeitet, sich verweigert oder zu sensibel reagiert, ist die Verwirrung perfekt. Statt Verständnis entsteht schnell das Gefühl, versagt zu haben.

Schuldgefühle und Selbstzweifel wachsen besonders dann, wenn du erkennst, dass dein Kind unterfordert oder überfordert ist und du nicht weißt, wie du helfen kannst. Vielleicht hast du Fördermöglichkeiten zu spät entdeckt oder dich gegen bestimmte Wege entschieden, weil sie sich damals nicht richtig anfühlten. Erst später merkst du, dass dein Bauchgefühl und der Rat anderer nicht immer zusammenpassten.

Die Wahrheit ist: Es gibt keine perfekte Entscheidung. Eltern von außergewöhnlichen Kindern stehen ständig zwischen zu viel und zu wenig Förderung, zwischen Verständnis und Grenzen, zwischen Selbstständigkeit und Schutz. Diese Balance zu finden, ist kein Zeichen von Unsicherheit, sondern Ausdruck von Achtsamkeit.

Mit dem Wissen von heute hätte ich L. zum Beispiel niemals an der ersten Gesamtschule angemeldet. Die Empfehlung kam damals von der Schul- und Bildungsberatung und obwohl wir direkt vor der Tür eine eigene Gesamtschule hatten, habe ich mich auf deren Empfehlung verlassen. Ein Fehler, wie ich heute weiß. 

So blöd es auch klingt: Unsere Entscheidung von damals kann ich nicht rückgängig machen. Aber ich kann lernen, wieder mehr auf mein Bauchgefühl, vor allem aber auf mein Kind zu hören. Auch, wenn andere es bestimmt gut meinen, du als Elternteil kennst dein Kind am besten! 

Erwarte also nicht von dir, immer zu wissen, was richtig ist. Hochbegabte Kinder verändern sich schnell, und was heute passt, kann morgen schon zu viel sein. Wichtig ist nicht, dass du jede Entscheidung triffst, die im Nachhinein perfekt erscheint, sondern dass du offen bleibst, hinschaust und lernst.

Wenn Schuldgefühle und Selbstzweifel dich begleiten, erinnere dich daran: Du handelst aus Liebe, nicht aus Gleichgültigkeit. Dein Kind braucht keine fehlerfreie Elternrolle. Es braucht dich, echt, aufmerksam und bereit, gemeinsam zu wachsen.

Gesellschaftlicher Druck: Warum Vergleiche alles nur schlimmer machen

Es ist fast unmöglich, ihnen zu entkommen:

Den Vergleichen mit anderen Eltern, anderen Kindern, anderen Familien. Du siehst, wie scheinbar alle anderen das Familienleben im Griff haben, während du selbst oft das Gefühl hast, nur zu reagieren, anstatt zu gestalten. In sozialen Medien, auf dem Schulhof oder beim Elternabend entsteht schnell der Eindruck, dass andere Kinder „funktionieren“ und andere Eltern alles richtig machen.

Für Eltern von hochbegabten oder zweifach außergewöhnlichen Kindern ist dieser Druck besonders belastend. Denn während andere stolz von guten Noten erzählen, kämpfst du vielleicht gerade mit Wutausbrüchen, Schulangst oder sozialem Rückzug. Du weißt, dass dein Kind klug ist, aber die Welt scheint es nicht zu sehen. Wenn dann Lehrer oder andere Eltern fragen, warum dein Kind „so schwierig“ ist, trifft das mitten ins Herz.

Solche Situationen verstärken Schuldgefühle und Selbstzweifel. Der ständige Vergleich mit Gleichaltrigen kann dazu führen, dass du glaubst, etwas falsch gemacht zu haben. Dabei liegt die Ursache oft gar nicht in der Erziehung, sondern in der besonderen Veranlagung deines Kindes. Hochbegabte Kinder entwickeln sich asynchron. Sie können gedanklich weit voraus sein, emotional aber sensibel reagieren oder mit Strukturen hadern, die nicht zu ihrem Denken passen.

Vergleiche sind deshalb unfair, nicht nur gegenüber deinem Kind, sondern auch gegenüber dir selbst. Sie übersehen, wie komplex euer Alltag ist und wie viel Kraft du täglich investierst. Niemand von außen sieht die Gespräche, die du führst, die Sorgen, die du trägst oder die Geduld, die du immer wieder aufbringst.

Versuche, dich Schritt für Schritt von diesem Druck zu lösen. Andere Familien haben andere Herausforderungen, auch wenn sie sie nicht zeigen. Dein Maßstab sollte nicht sein, was „normal“ ist, sondern was euch guttut. Dein Kind braucht keine Anpassung an das, was andere erwarten, sondern eine Umgebung, in der es verstanden wird. Und du darfst dich davon befreien, dich ständig rechtfertigen zu müssen. 

Emotionale Verantwortung: Wenn Eltern sich für alles verantwortlich fühlen

Eltern von hochbegabten oder zweifach außergewöhnlichen Kindern übernehmen oft mehr Verantwortung, als sie eigentlich tragen müssten. Wenn dein Kind traurig ist, wütend reagiert oder sich in der Schule schwer tut, suchst du automatisch nach Gründen.

Und häufig endet diese Suche bei dir selbst. Habe ich etwas falsch gemacht? Hätte ich anders reagieren müssen? Bin ich schuld, dass mein Kind so leidet?

Diese Gedanken sind verständlich, aber sie sind auch schmerzhaft. Viele Eltern glauben, sie müssten alle Probleme ihres Kindes lösen oder verhindern. Dabei übersehen sie, dass die Ursachen für schwierige Situationen oft weit außerhalb ihres Einflusses liegen.

Hochbegabte und vor allem 2e-Kinder haben eine besondere Art, die Welt zu erleben. Ihre Wahrnehmung ist intensiver, ihre Emotionen tiefer, ihr Denken komplexer. Sie stoßen auf Missverständnisse, Langeweile, Ablehnung oder Überforderung. Alles Dinge, die selbst der liebevollste und geduldigste Elternteil nicht verhindern kann.

Schuldgefühle und Selbstzweifel entstehen in solchen Momenten leicht, weil du dich hilflos fühlst. Du möchtest deinem Kind das Leben erleichtern, aber manchmal kannst du nur begleiten, nicht lösen. Es ist wichtig, diesen Unterschied anzunehmen. Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht, die Kontrolle über alles zu haben. Es bedeutet, präsent zu sein, hinzusehen und deinem Kind zu zeigen, dass du an seiner Seite bleibst, auch wenn du nicht alle Antworten hast.

Wenn du merkst, dass du beginnst, dich selbst für alles verantwortlich zu machen, halte kurz inne. Frage dich: Ist das wirklich meine Schuld, oder ist es einfach eine schwierige Situation, in der mein Kind und ich gemeinsam lernen dürfen? Diese Frage hilft, Distanz zu gewinnen und Mitgefühl für dich selbst zu entwickeln.

Erlaube dir, Fehler zu machen, zu zweifeln und manchmal nicht weiterzuwissen. Dein Kind braucht keine Eltern, die alles perfekt machen, sondern solche, die echt sind. Wenn du dir selbst mit Verständnis begegnest, lernt auch dein Kind, milder mit sich umzugehen.

Selbstfürsorge: Ohne Schuld Grenzen setzen und Kraft tanken

Viele Eltern glauben, Selbstfürsorge sei etwas, das man sich erst leisten darf, wenn alles andere erledigt ist. Wenn das Kind zufrieden ist, die Schule läuft, der Haushalt funktioniert.

Doch wer so denkt, bleibt in einer Endlosschleife aus Erschöpfung und Schuldgefühlen gefangen. Gerade Eltern von hochbegabten oder zweifach außergewöhnlichen Kindern brauchen Pausen, um stark bleiben zu können.

Schuldgefühle und Selbstzweifel führen oft dazu, dass du deine eigenen Bedürfnisse zurückstellst. Vielleicht denkst du, du dürftest nicht müde sein, nicht genervt reagieren, nicht das Bedürfnis haben, einfach mal allein zu sein. Doch das Gegenteil ist richtig. Dein Kind profitiert davon, wenn du dir erlaubst, Grenzen zu setzen und Kraft zu tanken. Nur wer innerlich stabil ist, kann auch in schwierigen Momenten gelassen reagieren.

Selbstfürsorge bedeutet nicht Egoismus, sondern Verantwortung. Es geht darum, bewusst auf dich zu achten, bevor die Erschöpfung so groß wird, dass du nur noch funktionierst.

Plane kleine Auszeiten in deinen Alltag ein, auch wenn es nur zehn Minuten mit einer Tasse Tee sind. Suche dir Menschen, mit denen du offen über deine Sorgen sprechen kannst. Nimm Unterstützung an, wenn sie angeboten wird, und hab keine Scheu, selbst um Hilfe zu bitten.

Dein Kind spürt deine Stimmung oft besonders stark. Wenn du dir selbst Fürsorge erlaubst, sendest du ein wertvolles Signal: Auch Erwachsene dürfen müde sein, traurig oder ratlos. Auch Erwachsene dürfen Fehler machen und trotzdem liebevoll bleiben.

Selbstfürsorge ist kein Zeichen von Schwäche. Sie ist ein Schutz, der dich davor bewahrt, dich selbst zu verlieren. Du darfst dich um dich kümmern, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Dein Kind braucht keine perfekte Mutter und keinen unermüdlichen Vater. Es braucht Menschen, die ehrlich sind, die sich selbst achten und zeigen, dass Liebe auch bedeutet, gut mit sich selbst umzugehen.

Als ich Ende 2019 einen Hund gekauft habe, hat vor allem meine Mutter mich für verrückt erklärt. Ihre Worte damals: „Neben Haus, zwei Kindern, selbstständig sein, willst du dich jetzt auch noch um einen Hund kümmern. Wann willst du das noch schaffen?“

Ich schaffe es. Weil ich es will. Weil die Zeit, die ich mit Rocky draußen bin, nur mir und ihm gehört. Weil ich dabei den Kopf frei bekomme und mich um nichts anderes außer gehen und atmen konzentrieren muss. 

Das ist meine Art, den Alltag auszublenden, neue Kraft zu tanken und einfach mal nicht präsent zu sein. 

Bleibt deshalb mal was liegen? Ja, ganz sicher! Stört es mich? Manchmal. Aber die Zeit, die ich nur für mich habe ist unbezahlbar. Auch ohne sauberes Wohnzimmer! 

Schulgefühle und Selbstzweifel: Du musst als Mutter nicht perfekt sein

Schuldgefühle und Selbstzweifel gehören für viele Eltern zum Alltag, besonders wenn das eigene Kind nicht in die üblichen Muster passt. Vielleicht fragst du dich oft, ob du genug tust, genug Geduld hast oder die richtigen Entscheidungen triffst. Doch diese Gedanken bedeuten nicht, dass du versagst. Sie zeigen, wie sehr du dein Kind liebst und wie wichtig es dir ist, ihm gerecht zu werden.

Eltern von hochbegabten oder zweifach außergewöhnlichen Kindern tragen eine besondere Verantwortung, aber auch eine besondere Last. Ihr Alltag ist geprägt von intensiven Emotionen, ständigen Anpassungen und Momenten, in denen nichts zu passen scheint. Sich in diesem Spannungsfeld nicht zu verlieren, ist eine große Leistung. Und genau das tust du jeden Tag.

Perfekte Eltern gibt es nicht. Es gibt nur Eltern, die jeden Tag aufs Neue versuchen, das Richtige zu tun, die hinfallen und wieder aufstehen, die lernen, sich selbst mit derselben Freundlichkeit zu begegnen, die sie ihren Kindern schenken. Schuldgefühle und Selbstzweifel dürfen da sein, aber sie müssen nicht bestimmen, wie du dich siehst.

Du bist gut genug, so wie du bist. Nicht, weil du alles richtig machst, sondern weil du da bist, liebst, lernst und weitergehst. Und manchmal ist genau das, was dein Kind am meisten braucht.

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Wer schreibt hier?

Alexandra Wittke_Porträt

Hey, ich bin Alexandra!

Neurodivers, Mutter von 2 wundervollen 2e-Kindern, Autorin, Mutmacherin und Wegbegleiterin. 

Unser Weg von „unbeschulbar“ hin zu einem Kind, das wieder gern in die Schule geht, ist Teil dieses Blogs. 

Mit ihm und mit meinem Buch „Anders Normal“ möchte ich anderen Eltern Mut machen, sich für ihre Kinder einzusetzen, gezielte Handlungskompetenz vermitteln und konkrete Strategien anbieten, mit denen sie ihre Kinder stärkenorientiert begleiten können. 

Dein Kind ist nicht anders. Es braucht nur eine Umgebung, in der es mit seinen Herausforderungen und Stärken gesehen wird!

Mockup Buch Anders Normal

„Anders Normal“ ist das Buch, das ich selbst gerne in unseren schwierigsten Zeiten gehabt hätte! 

Statt reiner Fachliteratur habe ich den Fokus bewusst auf Handlungskompetenz und konkrete Strategien gelegt, mit denen du dein Kind im Familienalltag, in Kita und Schule begleiten kannst.